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Rezension:Das russische Zarenreich - Eine photographische Reise 1860 - 1918 (Gebundene Ausgabe)

"Die Arbeit selbst erschien mir durchaus nicht so schwer, durchaus nicht so "sibirisch" und erst nach ziemlich langer Zeit erriet ich, dass das "Sibirische" dieser Arbeit nicht so sehr in ihrer Schwere und ununterbrochenen Dauer bestand, als vielmehr darin, dass sie "Zwangsarbeit", befohlene Arbeit, eisernes Muss unter drohendem Stock war." (Dostojewski, S.166).

Dieser wirklich beeindruckende Bildband über das russische Zarenreich enthält 362 Abbildungen von Leonid Anrejew, Carl Bulla, William Carrick, Roger Fenton, Murray Howe, George Kennan, Sergei Prokudin-Gorski u.a. Die Bildauswahl und Gestaltung realisierten Philipp Blom, Christian Brandstätter und Veronica Buckley.

 Die Bildreise ist in einzelne Kapitel untergliedert, die ich an dieser Stelle kurz auflisten möchte: Sankt Petersburg; der Nordwesten; der Westen; der Südwesten; russisches Zentralasien; der Ferne Osten; Sibirien; der Ural; Moskau und Umgebung..... Wie man der Einleitung bereits entnehmen kann, ist die fotografische Reise geografisch organisiert. Durch die Augen der Fotografen entdeckt man eine vielseitige Welt, die zeitlos und archaisch daherkommt, fast durchgehend von großer Armut gezeichnet ist, aber mitunter auch großen Reichtum und eine erstaunliche Modernität bezeugt. Dieser zwiespältige Eindruck, den die Fotografien hinterlassen, entspricht der Situation, in der sich das Russische Reich in der zweiten Hälfte des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts befand, (vgl.: S.14).

Wie man erfährt war die Gespaltenheit des kulturellen und interkulturellen Lebens nicht zuletzt auch ein Ausdruck der wirtschaftlichen und sozialen Situation im russischen Reich. Reformer begriffen schon früh die zentrale Herausforderung für die Modernisierung und den Fortschritt: Es ging darum, Millionen von Menschen aus dem Mittelalter direkt in die industrielle Moderne zu katapultieren, (vgl.: S.16).

 Die Bilder-Reise beginnt in St. Petersburg. Stets wird man über die gezeigten Bildinhalte textlich in Kenntnis gesetzt und hat Gelegenheit Sentenzen von Schriftstellern und anderen Persönlichkeiten aus damaliger Zeit zu lesen, die sehr viel über die damalige aussagen. Neben Gebäudebildern von St. Petersburg, hat man Gelegenheit Bilder der letzten Zarenfamilie zu studieren, aber sich auch in ein Foto von Rasputin zu vertiefen, jenen Wunderheiler, der zu viel Einfluss auf die russische Zarin hatte.

Immer wieder liest man erläuternde Sentenzen, so auch von Zar Nikolaus II., der der Russischen Revolution nicht gewachsen war.

 Die Bilder zu beschreiben führt an dieser Stelle zu weit. Viele der Bilder assoziiere ich mit dem Roman "Anna Karenina" von Tolstoi, andere mit Boris Pasternaks "Dr. Schiwago".

Ein Zitat aus Tschechows "Die drei Schwestern", das ich auf Seite 83 las, finde ich sehr aufschlussreich im Hinblick auf die Ignoranz der Aristokraten in jenen Jahrzehnten: "Ich habe noch keinen Tag in meinem Leben gearbeitet. In...einer Familie geboren, die keine Sorgen kannte - wo sollte ich es lernen."

Man sieht in diesem Buch viele Familien mit großen Sorgen, so etwa die jüdischen Bauern in der Gegend um Wilna, 1910, aber man sieht auch jüdische Straßenmusikanten, die es verstanden, für eine kurze Weile den Kummer zu vertreiben.

Man wird mit Bildern aus Odessa konfrontiert und dabei immer wieder mit unsäglicher Armut, die auch im Kaukasus groß gewesen sein muss und man ahnt, was Ossip Mandelstam meinte, wenn er sagte: "Die Trauer, unsagbarer Wall/ Schlug auf zwei übergroße Augen."

 Viele Textstellen aus Tolstois, Tschechows und Dostojewski Werken begleiten die Fotos, selbst nach Zentralasien, in den Fernen Osten und nach Sibirien sowie in all die anderen Gegenden, bei deren Anblick ich Melancholie verspüre, aber plötzlich zutiefst berührt bin über eine Sentenz Maxim Gorkis "Tschechow hatte schöne Augen. Wenn er lächelte, wurden sie warm und zärtlich, wie die einer Frau. Und sein Lachen fast lautlos, war irgendwie besonders schön. Im Lachen genoss er das Lachen, freute sich daran. Ich kenne niemand anderen, der so- wie soll ich es sagen- spirituell lachen konnte, (Zitat: S. 235). Die Fotos von Tschechow dokumentieren, was Gorki im Hinblick auf diese Augen meinte. Solche Augen wirken tröstend beim Anblick des vielen Leids, das man auf dieser fotografischen Reise zur Kenntnis nehmen muss, wenn man bewusst hinschaut und sich nicht vom Prunk Sankt Petersburgs betören lässt.

 Empfehlenswert. 

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