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Rezension: Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger-Robert Nippoldt/Boris Pofalla

Dieses bemerkenswerte Buch ist das Ergebnis einer Teamarbeit des Zeichners und Buchkünstlers Robert Nippoldt und des Autors Boris Pofalla, der u.a. im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und für das Kunstmagazin MONOPOL schreibt. 

Bevor man sich in das wunderbare Buch vertieft, empfiehlt es sich,  die beigefügte CD mit Hits aus jenen Tagen zu hören, um sich zunächst in den Zeitgeist musikalisch einzufühlen. 

Das reich illustrierte Werk beginnt mit einer geschichtlichen Einführung und einer doppelseitigen Stadtkarte von Berlin, in der Orte, die im Buch zur Sprache kommen, eingezeichnet sind. Darauf folgt ein Mix aus biografischen Miniaturen namhafter Persönlichkeiten im Berlin der wilden Zwanziger,  zudem spannend zu lesenden Texten zu Themen, die die Berliner damals bewegten und vielen  charakteristischen Illustrationen. 

Gleich zu Beginn lernt man den Revuekönig James Klein kennen und kurz darauf den Kosmopoliten Harry Graf Kessler, der sich gemeinsam mit Albert Einstein für den Völkerbund einsetzte und heute als wichtigster Chronist der Moderne in Europa gilt. 

Josephine Baker tanzte 1926 in Berlin. Die Dame mit dem Bananenröckchen faszinierte nicht nur die Männerwelt. Vorgestellt wurde sie damals dem Theaterregisseur Max Reinhardt, der sie bat, bei ihm zu studieren. Die Tänzerin war allerdings bereits in Paris verpflichtet. Josephine Baker galt  in den 1920ern  als Symbol für Freiheit. Wenn sie im Berlin des Jahres 1926 einen Nachtclub betrat, so Profalla, dann hörten die Musiker auf zu spielen- und verneigten sich. Alle waren fasziniert von ihr.

Das Adlonhotel war in Berlin in den Zwanzigern die erste Adresse und spiegelte, was die Gäste anbelangt, die Gesellschaft in jenen Tagen wider. Man liest  hier von Soupers mit 74 Gängen, aber auch von Tanztees, an denen jedermann teilnehmen konnte und vielem anderen mehr. Das Adlon war der Treffpunkt für alle, die Glanz liebten.

Albert Einstein  galt in den 1920ern der berühmteste Mensch der Welt, so Profalla und lebte in Berlin. Obgleich hochgeehrt, wurde er später von den Nazis enteignet und nahm 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Nach Berlin kehrte er nie mehr zurück. 

Ein überaus plastisches Bild von der Armut nach dem 1. Weltkrieg erhält man anhand eines sehr differenzierten Textes und der dazugehörigen Illustrationen, erfährt zudem  Biografisches über Friedrich Ebert, den 1. Reichspräsidenten und wird mit allen Deutschen Reichskanzlern in der Weimarer Republik vertraut gemacht. Der Außenminister Walter Rathenau wurde 1922 ermordet. In jenen Tagen verübte eine Gruppe von 5000 Mitgliedern mehrere Anschläge auf demokratische Politiker mit dem Ziel die Weimarer Republik zu stürzen und eine Militärregierung einzusetzen. 

Auch über den jüdischen Reporter Egon Erwin Kisch erfährt man Wissenswertes. Dass er die NZ-Zeit überlebte, erscheint dabei wie ein Wunder. 

Unmöglich im Rahmen der Rezension alle Persönlichkeiten zu nennen, die im Buch charakterisiert werden. Die Boxlegende Max Schmeling  muss ich wohl nennen. 

Nicht genug kann man die Illustrationen loben, die dem kollektiven Gedächtnis entsprungen erscheinen. Dann liest man spannendes zur neuen Frau, die Tags berufstätig und abends tanzbereit war. Diese Frau gab es real leider nicht allzu oft und auch nicht lange, denn die Liberalität der "Goldenen Zwanziger" dauerte nur etwa 5 Jahre. In diesem Zusammenhang lernt man eine Reihe von Pionierinnen kennen, unter ihnen auch Marie Munk. Sie war eine der ersten Rechtsanwältinnen und Elli Blarr, die erste Frau der Welt, die im Januar 1929 die Lizenz erhielt, eine Autodroschke zu fahren. 

1929 wurde der Konsumpalast Karstadt eröffnet und ist ein spannendes Thema im  Buch,  noch spannender allerdings  ist die gezeigte  Mode der Zwanziger Jahre, die wirklich ästhetisch war. 

Künstler wie George Grosz, auch der Publizist Kurt Tucholsky kommen später zur Sprache aber auch der Schriftsteller Christopher Isherwood, den ich bislang nicht kannte. Der Verleger Rudolf Ullstein brachte den Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues" heraus. Ullstein war antimilitaristisch. Der jüdisch-liberale Verleger floh 1939 nach London und baute nach dem Krieg seinen Verlag wieder auf. 

Persönlichkeiten wie der Theaterregisseur Max Reinhardt, der Komponist Kurt Weil, auch der Theaterrevolutionär Bertholt Brecht werden thematisiert und man erfährt Näheres zur Filmfabrik Ufa, in der der weltberühmte Film "Der blaue Engel" des Josef von Sternberg mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle gedreht wurde. Die Schauspielerin wird sehr gut porträtiert.

Man liest auch etwas über die Salonnière Betty Stern, ein Jüdin aus Breslau, der später die Emigration gelang und erkennt immer mehr, dass Intellektualität und Liberalität aber auch fröhliche Ausgelassenheit von den Rechtsradikalen schon sehr früh in der Weimarer Republik angefeindet wurden. 

Sehr gut gefällt mir die Doppelseite, auf der man mehr über Tänze aus den 1920er liest. Der erfolgreichste Tanz war bekanntermaßen der Charleston. Der Blues wurde eher in Kneipen als in Ballsälen getanzt, so Pofalla. Der Tango hingegen  galt als überaus mondän und ermöglichte neue Körpererfahrungen beim Tanzen. Die Illustrationen zeigen, dass in den neuen Tänzen viel Freiheitssehnsucht ausgelebt wurde. 

Auch über die Comedian Harmonists  wird man unterrichtet und kann sie auf der beigefügten CD stimmlich erleben. 

Ausgespart wird selbst das erotische Nachtleben nicht. Der amerikanische Professor Mel Gorden unternahm den Versuch, die Vielfalt der Prostitution in Berlin genau zu quantifizieren. Dazu gibt es im Buch eine Grafik. 130 000 Berlinerinnen verkauften damals ihren Körper als Zubrot.  Hunger und Moral lassen sich nicht vereinen.

Dann gibt es da u.a. Listen mit Persönlichkeiten, die nach Übersee oder innerhalb Europas emigrierten. Sie verdeutlichen, welches geistlose Pack die Nazis waren.

Die Lieder auf der CD werden alle näher skizziert, so auch die Ballade "Die Seeräuberjenny" aus dem Theaterstück "Die Dreigroschenoper" von Bert Brecht. Das Lied wurde von Kurt Weil vertont. 

Dieser Bildband ist eine künstlerisch wertvolle Dokumentation von Berlin der 1920er Jahre, die viele widersprüchliche Facetten aufzeigt, die in der Naziherrschaft schließlich ihr Ende fanden. 

Das Buch lese ich vor allem auch als Mahnung vor einer weiteren rechtsradikalen Heimsuchung, die uns allen bevorsteht, wenn wir aus der Geschichte nichts lernen.

Sehr empfehlenswert. 
Helga König

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Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger

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